INTERVIEWGESPRÄCH
WAS ERWARTET DIE WIRTSCHAFT
VON SCHULABGÄNGERN?
Laut Medienberichte gibt es in Deutschland 590.000 junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren ohne qualifizierte Ausbildung. Warum Vielfalt besser ist als Einfalt, was sie jungen Menschen empfiehlt und Frauen auch mal zugreifen müssen, darüber sprach die Jobgalerie Weserbergland mit der Hamelner IHK-Geschäftsstellenleiterin Dr. Dorothea Schulz.
IHK-Geschäftsstellenleiterin Dr. Dorothea Schulz (links), Foto: Katharina Cruz
Jobgalerie Weserbergland: Frau Dr. Dorothea Schulz, zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Kluge Köpfe brauchen das Land, das Weserbergland und die Stadt Hameln. Die IHK fordert mehr Zuwanderung. Ist Deutschland ein modernes Einwanderungsland? Und welche Qualifikationen, Expertisen und Kriterien aus dem Ausland brauchen aus Ihrer Sicht Deutschland, das Weserbergland und Hameln?
Dr. Dorothea Schulz: Ja, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Modern, nun daran muss das Land noch arbeiten. Der Fachkräftemangel bremst erheblich unser wirtschaftliches Wachstum, wird verschärft durch den demographischen Wandel und meist langwierige Anerkennungsverfahren. Das Potential, das sich zum Beispiel durch die Gruppe der Geflüchteten ergibt, ist bisher unzureichend gehoben. Das Programm der Bundesregierung, der sogenannte „Jobturbo – Geflüchtete schneller in Arbeit bringen“ ist ein guter Ansatz. Allerdings sind die hohen Anforderungen zur Durchführung von Sprachkursen zu restriktiv und werden den Erfolg des ambitionierten Programms gefährden. Für den Landkreis wünschte ich mir ein Willkommenscenter für Geflüchtete oder generell für Menschen mit Migrationshintergrund. Es sollte die Menschen durch den bürokratischen Dschungel begleiten, in Arbeit oder Ausbildung vermitteln und bei allen persönlichen Angelegenheiten da sein. Ein Willkommenscenter bündelt Synergien aller Beteiligten aus Kommunen, Verwaltung und Behörden zum Wohle der Ratsuchenden. Welche Fachkräfte brauchen wir im Weserbergland? In fast allen Berufen werden Fachkräfte gesucht. Dennoch, in den Branchen Elektrotechnik, Maschinenbau, IT/EDV und den Berufen der Hotel- und Gastronomiebranche werden neben handwerklichen Berufen dringend Fachkräfte gesucht.
Jobgalerie Weserbergland: Bleiben wir beim Thema. Stichwort Diversity und Vielfalt. Darin investieren Unternehmen viel Zeit und Geld. Bei verschiedenen und internationalen Biografien des Personals entstehen auch Konflikte. Worin sehen Sie die Chancen und Vorteile für Betriebe mit einer vielfältigen und internationalen Belegschaft?
Dr. Dorothea Schulz: Vielfalt ist immer besser als Einfalt. Das Miteinander unterschiedlicher Biografien und Herkünfte ist dann eine Bereicherung, wenn alle bereit und offen sind für neue, andere Sichtweisen und Lösungen. Das gilt für die Belegschaft genauso wie für die Unternehmensleitung. Bei der internationalen Belegschaft dürfen wir nicht nur an große Unternehmen denken. Im Mittelstand mit bis zu 100 Mitarbeitenden ist Diversität und Integration in der Regel direkter und persönlicher. Egal welcher Herkunft, mit Toleranz, Offenheit und Sachlichkeit sind alle Situationen im Sinne des betrieblichen Fortschritts zu meistern.
Jobgalerie Weserbergland: Der Frauenanteil in der deutschen Wirtschaft hat noch Potenzial nach oben. Einer IHK-Hannover Umfrage zufolge schreibt die Tageszeitung DeWeZet am 18. März 2024, dass Hameln-Pyrmont beim Frauenanteil in Führungspositionen mit 31,1 Prozent und Existenzgründungen mit 39,3 Prozent jeweils den zweiten Platz belegt. Was denken Sie über das Thema Frauen in Führungspositionen?
Dr. Dorothea Schulz: Deutschland wäre weiter, wenn das Land stärker auf Frauenpower setzen würde, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere aber ihre Teilhabe im Beruf. Diverse Studien haben festgestellt, dass gemischtgeschlechtliche Teams lösungseffizienter, sachlicher und resilienter arbeiten. Frauen in Führungspositionen müssen sich immer noch deutlich mehr anstrengen, um A: in eine Führungsposition zu kommen und B: dort akzeptiert zu werden. Aber, Frauen müssen auch zugreifen, wenn sich die Chance ergibt. Die Devise lautet also Traut Euch!
Jobgalerie Weserbergland: Kommen wir zur Jugend. Im Jahre 2021 haben laut Medienberichte über 47.500 Schülerinnen und Schüler die allgemeinbildenden Schulen ohne Schulabschluss verlassen. Die Wirtschaftswoche vom 12.04.2023 schreibt, dass 590.000 junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren ohne qualifizierte Ausbildung sind. Können wir uns das als Industrienation leisten? Und wie wirken sich solche Zahlen auf die Unternehmen aus?
Dr. Dorothea Schulz: Nein, das können wir uns nicht leisten und Unternehmen spüren es bereits massiv. Viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt, weil es keine oder unbrauchbare Bewerbungen gibt. Praktikum, Praktikum, Praktikum heißt die Devise, auch während der Ferien. Das schulische Praktikum macht schon viel aus, um Schülerinnen und Schülern zu zeigen, wie es im Betrieb zugeht. Auch kann man schon entscheiden, ob es ein künftiger Beruf wird oder nicht. Darüber hinaus sollte man die Möglichkeiten der Berufsorientierung ernsthaft nutzen. Die Agentur für Arbeit ist regelmäßig in Schulen, der Besuch von Ausbildungsmessen, z.B. die IdeenEXPO vom 8.-16.6. in Hannover oder die Hamelner Ausbildungsmesse am 20./21.9. in der Rattenfängerhalle sind ideale Kennlernorte. Dauerhaft fehlende Auszubildende im Betrieb schwächen seine Wirtschaftskraft und damit seine Wettbewerbsfähigkeit am Markt mit unbestimmten Ausgang, im worst case könnte es das Ende eines Unternehmens einleiten.
Jobgalerie Weserbergland: Die Anforderungen für viele Berufe sind relativ hoch. Was würden Sie jungen Menschen nach ihrem Schulabschluss empfehlen und was erwartet die Wirtschaft von den Schulabgängern?
Dr. Dorothea Schulz: Unternehmen erwarten, dass Schülerinnen und Schüler die Ausbildung ernst nehmen und in der Lage sind, sich zu bewerben. Heutzutage ist eine Bewerbung per Mail nichts Ungewöhnliches, neben der klassischen Bewerbungsmappe. Da sollte man zum Beispiel über eine seriöse Mailadresse verfügen. Auch gehört, wie im klassischen Anschreiben, die Anrede dazu und eine freundliche Signatur. Unternehmen gehen mittlerweile auch ungewöhnliche Wege beim Recruiting. Assessment, Teamaufgaben, Videoplots, vor allem aber im persönlichen Gespräch in vielleicht ungewohnter Umgebung werden durchaus praktiziert. Egal wie die Vorstellungsrunde läuft. Gesucht werden aufgeweckte, informierte, interessierte, neugierige, verantwortungsbereite junge Menschen, die Bock auf Ausbildung haben.
Jobgalerie Weserbergland: Frau Dr. Dorothea Schulz, haben Sie vielen Dank für das freundliche Gespräch.
Das Interview führte Joel Cruz
„BEI DER INTERNATIONALEN BELEGSCHAFT DÜRFEN WIR NICHT NUR AN GROSSE UNTERNEHMEN DENKEN“